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Ur- Sehnsucht - Der Zusammenhang zwischen Sehnsucht und Spiritualität

 

"Am Grunde unseres Seins liegt eine Sehnsucht, die dermaßen unstillbar ist, dass sie nichts anderes meinen kann als Gott."
(V.E. Frankl)

 

Wir können zu diesem Ziel der Sehnsucht, das Viktor Frankl nennt, anstatt 'Gott' auch Atman, Großer Geist, Nirwana, All-Einheit, Allah, Urgrund des Seins, Quelle allen Lebens oder andere Begriffe sagen.

Was wir in unserer Zivilisation jedoch meistens stattdessen tun, ist, dass wir diese Sehnsucht auf Ziele innerhalb der Welt projizieren und meinen, sie würden uns dauerhaft glücklich machen.

Insbesondere in Paarbeziehungen verwechseln wir unbewusst Partner oder Partnerin mit dem eigentlichen Ziel, wenn wir von diesen erwarten, dass sie uns glücklich machen und uns bedingungslos lieben sollen.

Sie alle können diese unbändige Sehnsucht niemals wirklich stillen, da alles in dieser Welt - Dinge und Lebewesen - der Polarität unterliegen, also wechselhaft sind und veränderlich. Und alles ist vergänglich.

 

Was aber sucht diese Sehnsucht in uns tatsächlich? All unser Sehnen ist letztlich ein Streben nach einem ununterbrochenen, ewigen Glücklichsein; nach Sicherheit und Geborgenheit; nach dauerhafter Gesundheit. Und zuallererst erhofft sie sich gleichbleibende, bedingungslose Liebe, die es uns möglich macht, dass wir so sein können, wie wir wirklich sind; dass wir uns diese tiefe und umfassende Liebe nicht erkaufen, erschleichen, erarbeiten müssen. Wir wünschen uns Unsterblichkeit.

All das erhoffen wir uns, indem wir diese Bedürfnise auf Menschen, Tiere und materielle Güter projizieren, ohne zu wissen, wohin in unserer tiefsten Tiefe unser Streben tatsächlich hingeht.

 

Woher aber kommt nur dieses Sehnen? Ist es ein Überbleibsel aus unserer Kindheit? Eventuell eine romantische Erinnerung an eine heile Kinderwelt, in der wir noch nichts vom Elend dieser Welt wussten? Oder ist es ein Sehnen nach dieser heilen Kinderwelt, gerade weil wir in schwierigen Verhältnissen aufwuchsen und uns Geborgenheit fehlte?

 

Die Wurzeln dieser tiefsitzenden, zeitunabhängigen Sehnsucht, der Ur-Sehnsucht, gehen sehr viel tiefer.

 

Wir wissen bereits von den Frühmenschen in der Steinzeit, dass sie ein intuitives Ahnen von einer Welt hinter der Welt hatten, welches sie bald durch symbolische Bilder und Figuren ausdrückten. Das war der Anfang des Ausdrucks einer spirituellen Veranlagung im Menschen.

 

Die Naturwissenschaften beschäftigen sich nicht mit dieser Veranlagung, als ob es sie nicht gäbe und als ob sie das Menschsein nicht bestimmen würde. Und dieses, obwohl Spiritualität seit Jahrtausenden zum Menschsein dazu gehört.
So wird von ihnen behauptet, das ausschließlich das Gehirn Bewusstsein hervorbringe und die Seele sozusagen als Software für den Körper von diesem hervorgebracht wird.

 

Bereiche der Geisteswissenschaften, Religionen, diverse spirituelle Lehren stehen allerdings auf dem Standpunkt, dass der Hauptanteil des Menschen nicht materiell und damit vergänglich sondern die Zeit überlebend ist. Es taucht die Frage auf, ob es nicht doch möglich sein könnte, dass der Mensch mehr ist als nur ein Körper, dessen Gehirn ein Bewusstsein hervorbringt und die seelischen Funktionen auf materieller Basis (Hormone, chemische, elektrische Impulse über die Nerven) steuert.

 

Die Erkenntnisse der Quantenphysik wiederum stehen, obwohl von der Naturwissenschaft herkommend, inzwischen dem spirituellen Verständnis des Menschen näher als ihrem Herkunftsbereich:

Die Frage geht weiter, nämlich, ob es nicht auch andersherum sein könnte, dass eine übergeordnete Kraft, ein übergeord-netes Bewusstsein den Körper mitsamt seinem Gehirn entstehen läßt, ein Bewusstsein, welches die Ursache des gesamten materiellen Universums ist? Und ob das Bewusstsein im einzelnen Menschen nicht ein Fragment bzw. ein Teil des über-geordneten Bewusstseins ist, aus dem er kommt und in das er wieder zurückgeht.

 

Dieser Ansatz läßt ein anderes Weltbild entstehen. Etliche bislang ungelöste Fragen lassen sich aus diesem Blickwinkel besser beantworten als mit unserer gängigen naturwissenschaftlichen Sicht. Auch ein umfassenderes Handeln wird möglich.

 

Dieses verursachende Bewusstsein, diese Kraft, diese Energie könnte auch als GEIST bezeichnet werden. Der Begriff ‚Geist‘ ist in diesem Sinne nicht zu verwechseln mit dem mentalen Verstand. Letzterer ist unter dieser Perspektive eine eingeschränkte Folge des ihn verursachenden GEISTES. Das Gehirn ist somit nicht dessen Quelle bzw. Ursprung sondern lediglich der Übersetzer bzw. Transformator von geistiger Energie ins Materielle.

 

Seit es Menschen gibt, gibt es Spiritualität und auch heute noch spielen weltweit Religionen und Spiritualität eine immense Rolle. Den Materialismus der westlichen Welt kann man auch als Religion bezeichnen, als den Glauben ausschließlich an die Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und deren Huldigung und 'Anbetung'.

 

Unter Spiritualität ist gelebte und erfahrene Geistigkeit gemeint; das Erspüren und Erfahren von etwas Existierendem, das über die materiell sichtbare Existenz hinausgeht; etwas, welches durch die konstante Zuwendung zu und Beschäftigung mit ihm so überzeugend erfahren werden kann, dass es zur Gewissheit und für die betreffenden Personen als Wirklichkeit erlebbar wird. Diese Wirklichkeit ist zwar nicht mit den gängigen Messmethoden zu erfassen, aber dennoch erfahrbar.

 

Spiritualität an und für sich ist formlos. Was wir als Religionen bezeichnen, ist Spiritualität, die wir in eine Form mit festen Regeln und Ansichten (Dogmen) gepresst haben. Dabei bleiben immer wieder wichtige Aspekte der Spiritualität ausserhalb der Form und finden keine Beachtung.
Das heißt nicht, dass Religionen uns nichts Bedeutendes zu sagen hätten. Sie sind eben ein Versuch, das Formlose beschreiben zu können. Aber ihre Formen können dazu beitragen, dass vieles vom Bedeutenden übersehen wird, weil zu sehr die Form betont wird, anstatt der Inhalt. Auch können Mißinterpretationen in die Form mit einfließen.

 

Jede Religion hat auch ihre Mystik. Darunter versteht man die dogmenfreie Erfahrung der Spiritualität innerhalb einer religiösen Weltanschauung. Die Mystik der Religionen wird in der heutigen Zeit jedoch von diesen bzw. von ihren Institutionen 'unter den Tisch' fallen gelassen; die Dogmen stehen im Vordergrund.


Viele Menschen der heutigen Zeit spüren jedoch mehr oder weniger bewusst ihre spirituelle Seite und die unbewusste Sehnsucht, wenden sich aber von den starren Dogmen ab, weil sie nicht mehr mit ihnen zurecht-kommen. Ihnen fehlt die erfahrbare und damit lebendige Spiritualität.

 

Der Dalai Lama sagte einmal:

 

Mögen alle Religionen in ihrer äußeren Form recht unterschiedlich sein, vergleicht man ihre Kernaussagen, dann ist zu erkennen, dass es ums Selbe geht: Jeder Mensch trägt tief in sich eine Ahnung an eine andere Sphäre des Seins, die zeitlich und räumlich nicht begrenzt sondern unendlich ist und in der Frieden, Harmonie und bedingungslose Liebe die Atmosphäre bilden."

 

Diese große Sehnsucht - die Ur-Sehnsucht - scheint ein tiefes Ahnen und Erinnern zu sein an einen Zustand, von dem wir alle herkommen und in den wir eines Tages wieder zurückkehren werden.

 

So gesehen, wie in diesem Beitrag dargelegt, ist Spiritualität etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches.

Das haben wir - ganz besonders in der heutigen Zeit - vergessen, da wir uns viel zu sehr von uns selbst entfernt und zu sehr der Materie zugewandt haben.

 

Was das Verhältnis Psychologie und Spiritualität anbetrifft, schließen sie sich im Grunde genommen gegenseitig nicht aus, obwohl das von der akademischen Psychologie noch immer so gesehen wird.
Tatsächlich geht die psychologische Sphäre in die spirtuelle über. Exakter formuliert: Die Spiritualität umgreift die psychologischen Gesetzmäßigkeiten, kann durch sie hindurchwirken und übersteigt sie zuletzt.

 

Entscheidet man sich dafür, sich der spirituellen Seite in sich zuzuwenden, dann beginnt zunächst meistens eine Suche, aus der ein Prozess mit ständigem Wachstumspotential entstehen kann, der es ermöglicht, die Welt mit anderen Augen zu sehen woraus viele hilfreiche, stabilisierende, beglückende, befreiende und erfüllende Erfahrungen folgen können.

 

 © Ruth Scheftschik